Rezensionen zu "1829"Klassik.com Januar 2015 Das Farbenklavier Reicher kann kein Flügel klingen. ‚Claviermusik um 1829 von Schubert und Mendelssohn’ – so ist Gerrit Zitterbarts Neuproduktion bei Charisma überschrieben, ein Konzertmitschnitt vom Januar 2014. Nun war Schubert 1829 tot, Mendelssohn ein zwanzigjähriger Bursche. Das ‚Clavier’ allerdings wurde 1829 verfertigt, ein Hammerflügel mit oberschlägiger Mechanik aus der Wiener Werkstatt Nannette Streichers. Zitterbart musiziert Schuberts Impromptus D 899, die Sonate A-Dur D 664, Mendelssohns 'Fantasie über das irländische Lied ‚The Last Rose of Summer’' op. 15 und dessen 'Lieder ohne Worte' op. 19 – eine konventionelle Zusammenstellung. Langeweile kommt dennoch nicht auf. Streichers Flügel bietet unerhörte Farben und Schattierungen, dynamische Finessen und klangliche Seltsamkeiten, zumal im Diskant. Mag es an Eleganz und Geschmeidigkeit fehlen, manches spröde cembalohaft, beinahe ungelenk scheinen – die Vorzüge dieses Klaviers überwiegen. Zitterbarts Lesart ist durchaus vernünftig. Die Tempi bleiben flexibel, für funkelnde Durchsichtigkeit ist gesorgt. Details werden kristallin zugeschliffen, ohne die Anmutung umfassenden Zusammenhangs zu gefährden. Wenn es Einwände gibt, betreffen sie den bisweilen robusten, hemdsärmeligen Zugriff ('Allegro moderato', D 664). Zitterbart ist jedoch kein Berserker. Häufig verblüfft seine Zartheit des Anschlags, die Vielfalt der Nuancen. An Klangphantasie steht er Streicher nicht nach. Phrasen werden beredt, doch kantabel durchgebildet, Haupt- und Nebensachen überzeugend unterschieden. Der Beihefttext ist kurz, aber vom Künstler verfasst. Vom Wort- und Gedankenmüll der meisten Booklets hebt er sich vorteilhaft ab. Aufschlussreich sind die Erläuterungen zur oberschlägigen Mechanik: ‚Die Hämmer schlagen von oben auf die Saiten herab, es ergeben sich ganz andere physikalische Verhältnisse, da der Ton in den Steg und somit in den Resonanzboden gespielt wird […]. Das Anschlagsgefühl des Pianisten ändert sich, ist indirekter als bei der üblichen Wiener Mechanik. Aber der Klang schwingt freier, ist sehr obertonreich und flexibel.’ Mit dem Bielefelder Exemplar hat es eine besondere Bewandtnis. Der Erhaltungszustand ist außergewöhnlich, ebenso die Stimmung. Diese ist ungemein tief angesetzt, damit die Saitenspannung nicht überhandnimmt. Weil Streicher und Bläser, so Zitterbart, diese Stimmung nicht nachahmen können, ist das Bielefelder Instrument für Zwecke der Kammermusik nicht zu gebrauchen. Gleichwohl – Nannette Streicher und Gerrit Zitterbart ermöglichen ein bemerkenswertes Hörabenteuer. Diese Platte sei allen Freunden des Klaviers ans Herz gelegt. Daniel Krause Rondo Dezember 2014 Nannette Streicher gehört zwar zu den
herausragenden Klavierbauunternehmerinnen ihrer Zeit, doch Aufnahmen mit ihren
Instrumenten begegnet man vergleichsweise selten. Eines der wenigen spielfähig
erhaltenen Originale ist der hier zu hörende, 1829 erbaute Flügel mit
oberschlägiger Mechanik aus dem Museum Huelsmann in Bielefeld. Bei der
Mechanik, die von Streicher maßgeblich entwickelt wurde, werden die Saiten
nicht wie üblich von unten, sondern von oben angeschlagen, was eine effizientere
Kraftausnutzung ermöglicht, aber Nachbau und Erhaltung der Instrumente nicht
gerade erleichtert. Carsten Niemann Klassik heute November 2014 Im Begleitheft dieser thematisch und musikhistorisch um das Jahr 1829 kreisenden Veröffentlichung wird das zum Einsatz kommende Instrument von Gerrit Zitterbart als Rolls-Royce unter den Flügeln der damaligen Zeit bezeichnet. Er geht wohl auch zu Recht davon aus, dass Schubert nie Gelegenheit hatte, auf einem solchen Instrument zu spielen. Mit dem Datum 1829 ist das Fertigungsjahr des Flügels aus der Wiener Fabrikation von Nannette Streicher und ihrem Sohn Baptist bezeichnet. Der automobile Vergleich eines auch bei dieser Gelegenheit literarisch rührigen, rundherum neugierigen Interpreten erweist sich als durchaus berechtigt, denn mit dem ersten Unisono-Akzent und der nachfolgend zunehmend harmonisierten Thematik wird deutlich, wie breit das „Ausdrucksspektrum“ dieses Instruments ist. Dessen „sinnliche Mischung aus obertonreichen, silbrigen Diskant und dunkelgefärbten Bässen“ hebt Zitterbart auch in seinem Begleittext hervor. Für eine farbige, beseelte, wenn nötig auch düstere Zeichnung der vier Schubert Impromptus op. 90 aus dem Jahr 1827 sind das beste Voraussetzungen. Zitterbart nutzt diese Möglichkeiten mit Umsicht, in vielen Passagen mit delikatem Anschlag, ohne jede Extravaganz in den Dosierungen von Zeitmaß und Dynamik. Ein in Höchstform, also jenseits aller beruflichen Routine operierender Rudolf Buchbinder vermochte dem c-Moll-Stück zuletzt in seiner Sony-Einspielung eine noch stärkere Wendung in Richtung glosender, brodelnder Gefährlichkeit zu verleihen, gar nicht zu reden von Grigory Sokolovs schmerzlicher, schier blutender Empfindlichkeit in der Skalen des Es-Dur-Impromptus, wie sie mir aus seinem letzten Salzburger Soloabend unvergesslich ist. Zitterbart beschreibt die vier beliebten Edel-Nummern mit gesunder Empfänglichkeit für die wesentlichen Schatten- und Lichtwirkungen. Vor allem aber nutzt er die klangliche Nervosität des Instruments, das heißt: der Einzelton hat eine gehörige Lebensdauer und er verbindet sich im Legato verlässlich zur Kantilene (wie dies sehr schön im Ges-Dur-Stück zu verfolgen ist). Die Wiederholung der Kopfsatzexposition der 1819 komponierten, aber erst 1829 veröffentlichten A-Dur-Sonate (D 664) wird von Zitterbart „eingespart“. Sie wäre bei mehr als 78 Minuten Spieldauer auch kaum noch unterzubringen gewesen… Rüstig, ohne übertriebene Biegsamkeit begibt sich der Pianist in die melodische Lieblich- und Betriebsamkeit des Kopfsatzes, die Oktavserien platziert er mit humanem Zugriff. Im Andante werden die klanglichen Möglichkeiten des Flügels rege ausgekundschaftet. Dem tänzerischen Finalsatz mangelt es nicht an Vitalität, freilich gibt es geschmeidigere und in manchen Passagen auch dynamisch zugespitztere Interpretationen (Richter /EMI, Brendel /Philips, Korstick /cpo, Afanassiev DG etwa). Überzeugend in jeder Hinsicht ist für mich die Mendelssohn-Abteilung, in deren liedhaften ebenso wie in den zur Etüde neigenden Modellen Zitterbart sich als engagierter, launiger, sehr bildhaft zeichnender und malender Gestalter zeigt – spürbar von den Möglichkeiten des Instruments „beflügelt“. Einmal mehr mag es im Nachhinein bestürzen, wie lange Mendelsohns ursprünglich als „Melodies for the Pianoforte“ publizierten Lieder ohne Worte vernachlässigt, ja als billige Salonware oder aus antisemitischer Perspektive verunglimpft wurden. In der Erstfassung von 1824 – so Zitterbarts Hinweis – wurde das quirlige Rondo capriccioso noch als Etüde bezeichnet. Als Mendelssohn das Stück 1830 der angebeteten Delphine von Schauroth widmete, erhöhte er nicht nur die technischen Anforderungen, sondern fügte – wie in einem Brief an Schwester Fanny zu lesen – ein „rührendes Einleitungsadagio“ hinzu. Von solcher Rührung erzählt uns Gerrit Zitterbart auf Tasten per Streicher-Philharmonie – und auch in den virtuosen Wechselfällen des Rondos hält er sich auf Augen- und Fingerhöhe mit jenen Kollegen, die das Stück nicht in Richtung Artistik auf die Spitze treiben.
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